Eine Art Lebensgeschichte
von Tilman Virgin
Ein kleines Akkordeon lebte einsam auf einem Dachboden im Norden Hamburgs und grübelte über den Sinn des Lebens.
"Keiner mag mich so richtig" dachte es so bei sich, als es sein Leben in Gedanken an sich vorbeiziehen ließ. Nun gut, das Akkordeon war über vierzig Jahre alt, da kommt so langsam die Midlife-Crisis. Aber es deutete ja wirklich so einiges darauf hin. Und das schon am Anfang seines jungen Lebens.
Seine ersten Wochen verbrachte es im Schaufenster eines Musikladens, da war es wirklich nett. Das kleine Akkordeon konnte rausgucken, sich den Trubel auf der Strasse ansehen, und ab und zu kam der Lehrling und streichelte es mit einem schönen weichen Staubtuch und spielte vielleicht auch mal ein paar Seemannslieder, es war schon eine recht angenehme Zeit.Eines Tages kam diese Frau mit ihrem Sohn in den Laden, er mochte so etwa neun Jahre alt sein. Das kleine Akkordeon gefiel ihm sofort. Es war rot und er mochte es viel lieber als sein schwarzes Brüderchen daneben. Die Frau legte ein bisschen Geld auf den Tisch und das kleine Akkordeon kam in eine dunkle Kiste, die allerdings sehr weich gepolstert war und sehr schön roch. Es merkte dann, wie die Kiste irgendwohin getragen wurde und nach einer ganzen Weile wurde es wieder hell.
Es war zuerst eine schöne Zeit bei den neuen Besitzern, aber sie dauerte nicht allzu lange. Anfangs wollten alle das kleine Akkordeon sehen und hören, aber der Junge sollte natürlich auch Unterricht bekommen. Wie das Leben so spielt, er fand seine Akkordeon-Lehrerin schon nach der ersten Stunde schrecklich und ging bald gar nicht mehr hin. Das Akkordeon wurde immer seltener aus der Kiste geholt und bekam seine ersten Depressionen.
Der Junge wurde groß, zog aus, und nach ein paar Jahren merkte jemand, dass da immer noch diese Kiste herumstand. Über eine Zeitungsanzeige bekam das kleine Akkordeon einen neuen Besitzer.
Die Geschichte wiederholte sich auf ähnliche Art noch zwei Mal und das kleine Akkordeon hatte schon jede Hoffnung aufgegeben. Es kam in das am Anfang erwähnte Grübeln.
Da geschah das Wunderbare. Die letzte Besitzerin – nun auch schon erwachsen - kannte einen Musiker, zu dessen Gruppe sie öfter zu Konzerten ging. Der spielte schon einige Instrumente, also warum nicht Akkordeon? Er freute sich, nahm das kleine Akkordeon gerne in Pflege und seitdem kommt es auch wieder öfter ans Tageslicht und lernt ständig neue Leute kennen. Die Depressionen sind wie weggeblasen.
Da kann man als Akkordeon schon mal darüber hinwegsehen, dass diese Jungs keine Seemannslieder spielen, sondern das Akkordeon meistens dazu benutzen, zusammen mit dem gestrichenen Kontrabass die Drones eines Dudelsackes nachzumachen. Egal - Hauptsache man ist auf der Bühne!